Verwaltungsgerichtshof Kassel

40-tägige Gebetswache

Gebetsmahnwachen dürfen gegenüber der Beratungsstelle von pro familia stattfinden.

Nr. 06/2022

Die vierzigtägigen Gebetsmahnwachen von Abtreibungsgegnern dürfen auf der gegenüberliegenden Seite des Plateaus vor der Beratungsstelle von pro familia in der Palmengartenstraße in Frankfurt am Main stattfinden. Das hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof in Kassel heute entschieden.

Der 2. Senat des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs hat mit Beschluss vom heutigen Tage die Beschwerde der Stadt Frankfurt am Main gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 1. März 2022 (Az.: 5 L 512/22.F) zurückgewiesen. Das Verwaltungsgericht hatte die Verlegung der Gebetsmahnwachen an die Bockenheimer Landstraße während der Öffnungszeiten von pro familia durch eine versammlungsrechtliche Verfügung der Stadt Frankfurt am Main als rechtswidrig angesehen.

In seinem Beschluss stellt der Senat klar, dass die Mahnwachen der Abtreibungsgegner, ihren Angaben zufolge täglich etwa 2 bis 10 Personen, ausschließlich auf der anderen Seite des Plateaus stattfinden dürfen. Auf diesen Bereich hatten sich die Versammlungsteilnehmer freiwillig zurückgezogen. Durch den Abstand von zirka 30 bis 35 Metern zum Eingang des pro-familia-Gebäudes und die bestehenden Sichtbehinderungen durch Büsche, Bäume und parkende Fahrzeuge werde die Privatsphäre der schwangeren Frauen, welche die gesetzlich vorgeschriebene Beratung vor einem Schwangerschaftsabbruch wahrnähmen, ausreichend geschützt. Eine sichere Identifikation einer Person auf dem Weg zur Beratungsstelle sei bei diesen örtlichen Bedingungen nicht möglich. Die gesprochenen Rosenkranzgebete und liturgischen Gesänge seien eingebettet in eine Geräuschkulisse, die durch die mehrere Meter hohe Fontäne in dem Teich vor dem Eingang zum Palmengarten auf der einen Seite und die Verkehrsgeräusche von der Bockenheimer Landstraße auf der anderen Seite bestimmt werde. Die Gebete und Gesänge seien deshalb vor dem pro-familia-Gebäude kaum vernehmbar. Von der Situation vor Ort hatte sich die Berichterstatterin des Senats selbst ein Bild gemacht.

Zur Begründung seiner Entscheidung hat der Senat ausgeführt, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit umfasse auch die freie Wahl des Versammlungsortes. Das vom Veranstalter gewählte Plateau habe für das Versammlungsanliegen wegen der dort gelegenen Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle von pro familia eine symbolhaltige Bedeutung. Der Veranstalter sei nicht zu einer Rechtfertigung verpflichtet, warum er die Versammlung nicht an einem anderen Ort durchführe, an dem er bei mehr Publikumsverkehr sogar eine größere Öffentlichkeit erreichen könne.

Anders als das Verwaltungsgericht geht der Senat aber davon aus, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Frauen, die eine Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle aufsuchten, die örtliche Verlegung einer derartigen Versammlung grundsätzlich rechtfertigen könne. Es gehe vorliegend nicht nur um einen Konfrontationsschutz vor nicht erwünschten anderen Ansichten, der nicht beansprucht werden könne. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht der ratsuchenden Frauen könne durch psychischen Druck etwa durch Plakate mit Baby- und Fötusbildern, Marienikonen, Transparente, Gebete, Gesänge und Niederknien der Versammlungsteilnehmer beeinträchtigt werden. Daneben sei auch das Interesse der ratsuchenden Frauen an einer Geheimhaltung der bestehenden Frühschwangerschaft und des in Erwägung gezogenen Schwangerschaftsabbruchs schutzwürdig.

Die Bekundung von Unbehagen, Unverständnis oder Empörung gegenüber der Versammlung sowie einer rein subjektiv empfundenen Bedrohlichkeit durch die schwangeren Frauen, andere Ratsuchende und das Personal der Geschäftsstelle von pro familia dürfe aber nicht dazu führen, dass die unerwünschte und abgelehnte Meinung durch räumliche Verdrängung der Versammlung bekämpft und die Versammlungsteilnehmer in ihrem grundrechtlich gewährleisteten Recht auf freie Entscheidung über den Versammlungsort beschränkt würden. Ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der ratsuchenden schwangeren Frauen sei deshalb nur dann gegeben, wenn eine Versammlung so nahe an dem Eingang einer Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle stattfände, dass die Versammlungsteilnehmer den schwangeren Frauen direkt ins Gesicht sehen könnten und die Frauen dem Anblick der als vorwurfsvoll empfundenen Plakate mit Baby- und Fötusbildern sowie Parolen und dem Anhören der Gebete und Gesänge aus nächster Nähe ausgesetzt wären. Dies sei bei Durchführung der Gebetsmahnwachen auf der anderen Seite des Platzes nicht der Fall.

Der Beschluss ist im verwaltungsgerichtlichen Instanzenzug nicht anfechtbar.

Aktenzeichen: 2 B 375/22

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