Mit kürzlich ergangenen Beschlüssen hat die 10. Kammer des Verwaltungsgerichts Gießen drei Eilanträgen des ATTAC Trägerverein e.V. (im Folgenden: ATTAC), die sich gegen durch die Stadt Gießen verfügte versammlungsrechtliche Beschränkungen richten, größtenteils stattgegeben.
ATTAC meldete Anfang November 2025 anlässlich der in den Hessenhallen geplanten Neugründung der Jugendorganisation der „Alternative für Deutschland“ (AfD) insgesamt drei Kundgebungen zu dem Thema „Gemeinsam für unsere Demokratie - gemeinsam gegen die Neugründung der AfD-Jugend in Gießen!“ für den 29. November 2025 bei der Stadt Gießen an. Diese sollten auf den Versammlungsflächen der Straßen „Lehmweg“ Ecke „An der Hessenhalle“, Krofdorfer Straße Ecke Kropbacher Weg und Hardtallee auf der Höhe der Einfahrt des Reit- und Fahrverein Gießen e.V. stattfinden; es wurde jeweils eine Teilnehmerzahl von 20 bis 50 Personen angegeben.
Mit Bescheiden vom 22. November 2025 ordnete die Stadt Gießen u.a. die Festlegung und Beschränkung der jeweiligen Kundgebungsorte auf die Ostseite der Lahn, dort: Lahnstraße auf den Lahnwiesen auf dem Gebiet zwischen der Konrad-Adenauer-Brücke bis Sachsenhäuser Brücke (Rodheimer Straße), an. Zur Begründung gab die Stadt Gießen an, dass es sich bei den geplanten Versammlungsflächen um Bereiche handele, in denen voraussichtlich eine deutlich höhere Gefahrenlage bestehe, aus der sich erhebliche Gefährdungen für bedeutsame Rechtsgüter wie die körperliche Unversehrtheit der Teilnehmenden von AfD-Veranstaltung und der geplanten Versammlungen, von Polizeikräften und Dritten sowie die Funktionsfähigkeit des Rettungs- und Notfallwesens ergäben. Es sei von Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Versammlungen, die sich derzeit auf mindestens 30.000 Teilnehmende summieren würden, auszugehen. Zudem sei es bei vergleichbaren Protesten in Essen (2024) und in Riesa (2025) zu einer Vielzahl von Straftaten gekommen. Ferner wurden eine Pflicht zur Stellung einem Ordner je 25 Teilnehmenden und ein Verbot von bestimmten Gegenständen zur Vermummung oder Passivbewaffnung verfügt.
Hiergegen wandten sich die Eilanträge von ATTAC. Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt, dass keine mit Essen oder Riesa vergleichbare Situation vorliege. Ferner sei die örtliche Verlegung bzw. Beschränkung nicht erforderlich, da die Durchfahrt von Rettungsfahrzeugen ebenso wie eine Durchführung der Versammlung in Hör- und Sichtweite der Hessenhallen sichergestellt werden könne. Im Fall von dynamischen Situationen seien hinreichende Fluchtmöglichkeiten gegeben. Der verwendete Ordnerschlüssel sei unüblich und rechtswidrig.
Die 10. Kammer hat den Anträgen hinsichtlich der jeweiligen räumlichen Beschränkungen stattgegeben. Dabei wurde in Bezug auf die Versammlungsfläche Lehmweg“ Ecke „An der Hessenhalle“ die Maßgabe erteilt, dass die Versammlungsfläche gemessen von der Mitte der Kreuzung der Straßen „Lehmweg“ und „An der Hessenhalle“ einen Abstand von 50 Metern in Richtung der „Rodheimer Straße“ einhält. Zur Begründung hat die Kammer ausgeführt, dass keine konkrete Sachlage bestehe, die nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge den Eintritt eines Schadens mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarten lasse und daher bei ungehindertem Geschehensablauf zu einem Schaden für die der Versammlungsfreiheit entgegenstehenden Rechtsgüter führe. Insbesondere sei eine Zufahrt von Rettungskräften auch durch die erfolgte Abstandsregelung sichergestellt. Für eine gerichtliche Prognose, dass Versammlungsteilnehmende Einsatzfahrzeugen der Rettungskräfte die Durchfahrt auf der Krofdorfer Straße verwehren würden, lägen keine belastbaren Hinweise vor. Auch sei eine Beeinträchtigung von Rettungsfahrzeugen bei einer erwarteten Teilnehmerzahl von 20 bis 50 Personen nicht wahrscheinlich. Die festgesetzte Anzahl an Ordnern stufte die Kammer als nicht erforderlich ein und gab dem Antrag mit der Maßgabe statt, dass eine Ordnerin/ein Ordner je 50 Teilnehmenden zum Einsatz zu bringen sei.
Das durch die Stadt Gießen für die jeweiligen Versammlungen verfügte Verbot von Schutzausrüstung und Vermummungsgegenständen wie etwa Gesichtsschutzmasken, Gasmasken, Schutzbrillen, Skibrillen, Körperliche Protektoren auch aus dem Sportbereich, Schutzbrillen (z. B. Schweißerbrillen), Ski-Brillen oder Ähnliches ist nach Einschätzung der Kammer hingegen rechtmäßig. Denn diese Gegenstände bzw. Bekleidungsstücke seien objektiv zum Schutz des Körpers bei kämpferischen Auseinandersetzungen oder zur Verhinderung der Feststellung der Identität bestimmt bzw. geeignet.
Die Entscheidungen (Beschluss vom 26. November 2025, Az.: 10 L 6673/25.GI und Beschlüsse vom 27. November 2025, Az.: 10 L 6673/25.GI und 10 L 6674/25.GI) sind noch nicht rechtskräftig. Die Beteiligten können dagegen binnen zwei Wochen Beschwerde beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel einlegen.